Den ersten Glühwein des Jahres konnte man bei der Novemberkälte gut brauchen und man konnte mit den Opernfiguren auf der Bühne mitzittern: Auf Schloss Amerang gab’s „La Bohème“, die Oper von Giacomo Puccini, in der alle im Dezember frieren und frieren und doch im Freien Weihnachten feiern.
Es ist schon die sechste Opernproduktion des „Oper-im-Berg-Festivals“, das Ingo Kolonerics gegründet hat und leitet, im „schönsten Opernhaus Bayerns“, wie Kolonerics sagt. Bestimmt ist es eins der stimmungsvollsten in diesem malerischen Renaissance-Arkadenhof. Der ist wegen der kleinen Bühne schwer zu bespielen, aber Kolinerics fand immer geeignete Lösungen. Der Bühnenprospekt muss hoch in die Höhe gehen, was der Maler Hendrik Müller immer sehr geschickt kaschiert. Diesmal ist es der Blick aus dem Atelierglasfenster über die Dächer von Paris. Das ist schön für das Anfangs- und Schlussbild. Für die beiden anderen Bilder, für das Café Momus, in dem die Bohemiens feiern, noch mehr für das Gasthaus an der Zollschranke muss sich das Publikum aber alles dazudenken. Ein entsprechendes Wirtshausschild hätte da schon mehr Bildsignale geben können. Und wenn man so schön nahe an der Bühne sitzt, möchte man, weil immer wieder ausgiebig gezecht wird, auch richtig Wein in den Flaschen und Gläsern sehen. Vor allem kann das lebhafte Treiben auf der Straße nicht dargestellt werden. Aber irgendwann wird Kolonerics auch dafür Lösungen finden. Letztlich ist dies auch eine Geldfrage. Dafür konnte man sich ungehindert an den Stimmen laben. Woher findet Kolonerics nur immer seine Sänger, die hier ausnahmslos hervorragend sind? Prachtvoll und lebendig sind schon die vielen Nebenrollen: Nejat Isik Belen als raumfüllend temperamentvoller Maler Marcello, Fernando Aranjo als eleganter Musiker Schaunard, Dong Jung Choi als Philosoph Colline mit edel strömendem Bass und vor allem die bezaubernd girrende und lockende Dilay Girgin als Musetta. Und staunend vernimmt man: Nicht nur für Colline, auch für Mimi und Rodolfo war’s das Rollen-Debüt! Keine Spur davon merkte man, so gingen die Sänger in ihren Rollen auf. So wird Amerang auch zum Opern-Experimentierlabor! Chul Hyan Kim als Rodolfo ist ein Tenor mit veritablem italienischen Timbre voll unermüdlicher Kraft und voll ansteckendem Brio, Astghik Khanamiyan als Mimi verfügt über einen gut sitzenden, leicht anspringenden und schön lyrisch aufblühenden Sopran, der zusätzlich noch ein mädchenhaftes Timbre hat: ideal für das „soave fanciulla“, wie Rodolfo sie besingt, das süße Mädchen. Über all diese prachtvollen Stimmen könnte sich jedes deutsche Stadttheater glücklich schätzen. Das Orchester ist, wie üblich in Amerang, reduziert, auf 16 Musiker. Da hört man die Funktion jedes Einzelinstruments, da hört man, wie Puccini so fein und funktional instrumentiert, da hört man die „durch Negativität der Klangdichte erzielte Intensität“, wie es Ulrich Schreiber in seinem „Opernführer für Fortgeschrittene“ formuliert. Allerdings muss dann die Harfe durch das Klavier ersetzt werden, das nimmt der Schneeflocken-Atmosphäre am Anfang des dritten Bildes etwas an Wirkung. Und den schwelgerischen Klang der Geigen-Armada der Großbesetzung vermisste man bisweilen. Ersetzt wird dies aber wie immer in Amerang durch die Nähe zum Geschehen, die einen in dieses Geschehen reißt. Und wenn Mimi stirbt, wagen zum ersten Mal die Sänger wirklich ein klingendes Piano, was einen unwillkürlich zum Taschentuch greifen lässt. Große Oper auf kleiner Bühne!
Rainer W. Janka (OVB 8.11.2016)