Carmen winkte von den Schlossarkaden herab. Der Torero stolzierte durch die Zuschauer, von den tänzelnden Chordamen sehnlichst erwartet. Von hinten schritt das Bauernmädchen Micaela schüchtern heran: Der ganze Schlosshof von Schloss Amerang wurde zur Arena für eine der leidenschaftlichsten Opernliebesgeschichten: „Carmen“ von George Bizet. Wieder hatte die „Oper im Berg“ aus Salzburg mit Ingo Kolonerics eine neue Opernpremiere im Schloss Amerang, diesmal als besonders beeindruckende und packende Inszenierung, die von den Zuschauern immer wieder mit Zwischenapplaus und am Schluss mit Ovationen gefeiert wurde. Und wieder hat Hendrik Müller die schwierige Spezialität des Bühnenbildes glänzend gemeistert: Das Bühnenbild ist ja viel mehr hoch als breit. Müller fasste die wesentlichen Stationen schlüssig – zumindest für wissende Zuschauer – in ein Bild zusammen: Sevillas Häuserfassaden, eine Bergschlucht, die Stierkampfarena und, über allem thronend und drohend, ein Stierkopf: Ist Liebe wie ein tödlicher Stierkampf? Ingo Kolonerics hat, wie immer, aus der Ameranger Minibühne das Richtige gemacht: Er macht keine Regie-Mätzchen, sondern lässt gleichsam die Musik Regie führen. Das funktioniert auch deswegen so gut, weil das 18-köpfige Orchester so kammermusikalisch wachsam, akzentuiert und so farbig spielt. Marco Moresco gibt den sehr jungen Musikern viel Sicherheit und Ruhe – in der Ouvertüre vielleicht zu viel Ruhe. Doch dann entwickelt sich aus dem Orchester heraus große dramatische Spannung. Wenn Carmen die Akazienblüte, die sie José zuwirft, vorher an ihrem Körper entlangstreicht, sie so erotisch auflädt, schwillt gleich der Geigenklang genauso erotisch an. Und genau hört man, wie Bizet ironisch die militärische Marschmusik verwitzelt. Prachtvolle Stimmen Zu diesem Regiekonzept müssen natürlich auch die Sänger passen. Und wie die passen! Woher nimmt bloß Kolonerics all diese prachtvollen Stimmen?! Selbst die Nebenrollen singen hervorragend. Und erst recht die Hauptfiguren: Dilay Girgin als die naiv liebende Micaela singt mit ihrem glockenhellen Sopran so betörend und eindringlich, dass man als Zuschauer nur allzu gerne wünscht, dass sie und José ein Paar werden. In ihren Sopran legt sie all ihre Heimatliebe und das Versprechen häuslichen Glücks. Als Escamillo wirft sich Nejat Isik Belen wirkungs- und prachtvoll stimmlich in die Torero-Brust – allerdings wäre seine Halbglatze mit Torero-Hut männlicher gewesen. Ozge Kalelioglu ist eine gertenschlanke, rothaarige Carmen, die José immer wieder gefährlich schlangenhaft umtanzt, ihn mit weit aufgerissenen Augen fast verschlingt und mit einer vollen erdigen Altstimme mit viel Brustregister umgarnt. Und einen José wie Ali Murat Erengul wird man schwerlich finden: ein schön anzuschauendes echtes Mannsbild mit einer kraftstrotzenden und nie müde werdenden Tenorstimme. In seiner Blumen-Arie versammelt er all seinen Liebesschmerz, sein schmelzendes Liebesweh, seinen verletzten Stolz und seine resignierte Hoffnung: Anlass für heftigen Zwischenapplaus. Nur im Spiel müsste er noch ein bisschen variabler werden, dürfte anfangs nicht immer nur wehleidig dreinschauen. Doch die Schlussszene hatte mitreißende Dramatik, man litt mit ihm mit. Am Sonntag, 9. Juli, gibt’s in Amerang noch mal die Möglichkeit, mit ihm mitzuleiden.
Rainer W. Janka (4. Juli 2017, OVB)