Tosca: Opern-Schocker und Seelendrama
Tosca ersticht den bösen Polizeichef Scarpia von hinten mit einem gezielten Stich ins Herz, dann trinkt sie einen Schluck Rotwein, putzt sich ausgiebig angewidert die Hände und stellt dann das Kruzifix auf den Tisch - als wollte sie Gottes Ordnung wiederherstellen. Dann erst entwindet sie ihm den Passierschein und ihren roten Schal: eine wirkungsstarke Szene, die auf der kleinen Bühne des Innenhofs von Schloss Amerang durch die Nähe zum Geschehen noch stärker wirkt.
Und wenn im nächsten Akt die bezaubernde Dilay Girgin als singender Hirtenknabe durchs Publikum schreitet, meint man, mit dieser reinen Unschuld in ihrer Stimme sei Gottes Ordnung wirklich wieder hergestellt: die wahre Unschuld in einer blutigen Welt.
Es ist die vierte und letzte Opernproduktion der Salzburger "Oper im Berg", die der Intendant und Regisseur Ingo Kolonerics auf Schloss Amerang realisiert. Es ist eine seine bruchlosesten und stärksten, auch wenn die Zuschauer im gut gefüllten Schlosshof auf die klerikale Prachtentfaltung beim "Te Deum" im ersten Akt und auf das Hinrichtungspeloton im letzten Akt verzichten müssen. Aber Tosca springt als Schatten in Zeitlupe von der Engelsburg, möglich gemacht durch das Bühnenbild von Hendrik Müller, das die Kapelle Attavanti (wenn auch zeitwidrig in gotischem Stil), den Palazzo Farnese und die Engelsburg vereint samt der alles überragenden Kuppel des Petersdoms.
Es sind also die Szenen der Bühnenfiguren, nein: der Menschen, miteinander, die eine tragische Wirksamkeit entfalten, im Spiel und vor allem in der Musik, im Gesang. Selten hört man eine so geglückte Paarung von Tosca und Cavaradossi wie hier: Paolo Lardizzone kann hier seinen Pracht-Tenor ungehemmt entfalten, ihn kraftvoll fließen lassen und die großen Pucci'schen Melodiebögen mit blutvollem Leben füllen.
Und voller Erstaunen erfuhr man, dass die Tosca für Meredith Hoffman-Thomson ihr Rollen-Debut war. Vollkommen sicher ist sie in dieser Rolle, führt ihren obertonreichen und schöntimbrierten hochdramatischen Sopran mühelos durch die hochgespannte Tessitura dieser mörderisch schweren Sängerinnenpartitur, ist voller Leidenschaft samt extremen Eifersuchts-Gefühlsausbrüchen, in denen ihr Sopran sich - für Cavaradossi - gefährlich schärfen kann, ein sängerisches Vollweib, das aber in der "Vissi-d'arte"-Arie ihren kraftvollen Sopran urplötzlich in ein schmerzvoll gespanntes Piano zurückführen kann. Wenn beide sich küssen, spürt man die Liebe, die hier beide bis in den Tod treibt, spürt man die tragische Urwucht dieser Oper. Nicht zuletzt sind beide Menschen, die man gerne ansieht. Nicht unwichtig für die dramatische Wahrheit.
Nejat Isik Belen verleiht dem Scarpia eine finsterböse Bass-Schwärze. Als er meint, Tosca zu kriegen, leckt er sich genüsslich die Lefzen. Tödlich präzise artikuliert er, nur bisweilen wird sein Bass in der höchsten Erregung in der Höhe offen und statisch.
Ansonsten ist musikalisch alles da, die Scarpia-Motive dröhnen dunkel-drohend, die Kanonen donnern, die Glocken schlagen, die Trommel rattert, das immerhin 20-köpfige Orchester - samt dem phänomenal feinnervigen Cellisten - wird von Marco Moresco auf eine nervöse Getriebenheit getrimmt, die in den vielen synkopischen und rhythmisch unruhigen Partien als komplexer Ausdruck der psychischen Situation der Opernfiguren fungiert: Puccini erweist sich hier als "latenter Zeitgenosse Sigmund Freuds", wie Ulrich Schreiber in seinem "Opernführer für Fortgeschrittene" formuliert:. "Tosca" als Opern-Schocker und als Seelendrama.
Das enthusiasmierte Publikum war hingerissen und applaudierte begeistert vor allem dem Tenor und dem Sopran - mit vollem Recht.
Rainer W. Janka (Kritik vom 5. August im OVB)